Den Bogen verloren

Klaudia Lagozinski, 28 Jahre

Als Tableau Vivant inszeniert Samir Odeh-Tamimi „Philoktet“. Die Neuen Vocalsolisten sprechen und singen die griechischen Texte, während die Mitglieder des Orchesters begleiten und zwischen Requisit, Statist und Musiker*in oszillieren.

Streicher rennen zuckend über den schwarzen Bühnenboden, Sängerinnen klammern sich an die Füße des Philoktet, später reißt das Ensemble Bücherseiten in kleine Fetzen. Das von Samir Odeh-Tamimi geschaffene Tableau Vivant – die Darstellung von Werken mit lebenden Personen – will viel. Musikalisch überzeugt es durch Ausdruckskraft, während vor den Augen der Zuschauer oft zu viel gleichzeitig passiert.

Es ist das erste Mal, dass der Stoff in der Form eines Musiktheaters inszeniert wird. Hierfür mischte der Komponist die Dramen von Sophokles, Heiner Müller und André Gilde, um die Geschichte des Kämpfers aus unterschiedlichen Epochen heraus zu erzählen. Das Libretto hat Claudia Pérez Iñesta geschrieben.

Wohin mit der Aufmerksamkeit?

„Ich wollte kein opernartiges Theater machen“, sagt Odeh-Tahimi in der Einführung. Das ist ihm gelungen, auf der Bühne wird nicht nur gesungen, sondern auch geschlafen, gerannt, gehechelt, gezuckt und gekrochen. Doch die Bilder verlieren sich in Details. Die Gruppen auf der Bühne – Solisten, Chor und Orchester – können gar nicht die volle Aufmerksamkeit erhalten, weil sich die Kompositionen von Bildsymbolik, Text und Musik ständig mischen.

Philoktet (Daniel Glogler), der Verwundete, von seinen Kampfgefährten auf der Insel Lemnos Ausgesetzte, trägt ein fetzenartiges Kostüm, und hat eine „Wunderwaffe“, die ihm später von Neoptolemos (Martin Nagy) weggenommen wird: den Bogen des Herakles. Die Aufführung besitzt hingegen keinen Bogen in ihrer Spannung. Zwar wird durch den langsamen Beginn, bei dem sich das auf dem Boden liegende Ensemble Musiker für Musiker langsam aus Fleecedecken schält, ein Anfang markiert und auch durch einen Toten das Ende sichtbar, doch durch all die Nebenaktionen nicht spürbar. 

Licht verbindet Musik mit Bewegung

Der 70-minütige Abend ist stimmlich und musikalisch gewaltig, verliert sich jedoch in Bildern, die sich so schnell verändern, dass das eine noch im Kopf ist, während ein Neues sich schon aufbaut. Die Musiker hecheln und stöhnen. Spielen mit Tönen und Klängen. Eine Musikerin spielt Luftvioline, der Bogen berührt ihr Streichinstrument nicht. Das flackernde Licht, das die Bühne in der zweiten Hälfte der Aufführung flutet, stellt dann eine Verbindung zwischen den einzelnen Aspekten her – als hätten die Bilder nun einen Rahmen bekommen, der sie zusammengehörig macht.

Die Eindrücke, die durch Klang erzeugt werden, überzeugen – wie der akustische Bienenstock, der durch das filigrane Zusammenspiel von den Streichern und Percussion entsteht. Dabei bewegen sich die Hände der Violinistin schneller als das menschliche Auge einfangen kann. Später bespielt die Harfenistin ihr Instrument mit zwei Halbliter-Mineralwasserflaschen. Auch das zeigt eindrucksvoll die Möglichkeiten des Schaffens ungewöhnlicher Klänge.

Odeh-Tamimis Inzenierung kann und will viel. Sie zeigt starke Bilder, unterbricht sie durch Töne. Doch sie scheint allen Aspekten von Theater und Musik gerecht werden zu wollen und verliert dadurch an einigen Stellen den Fokus.

Der Blick des Zuschauers kann sich nicht teilen

Der spielerische, unterhaltsame und gleichzeitig wertschätzende Umgang des Komponisten mit Philoktets Geschichte und griechischem Text zeigt eine Bandbreite szenischer Umsetzungsmöglichkeiten auf. Doch braucht sie das alles wirklich? Braucht sie die Zusammenfassung der griechischen Originaltexte auf dem kleinen Bildschirm über der Bühne? Könnten die Bilder nicht vielmehr für sich sprechen? Denn letztendlich kann der Blick des Zuschauers nur entweder auf oder über der Bühne sein.

Das Orchester, das musikalisch die visuell geschaffenen Bilder trennt, pantomimisch Instrumente bespielt und später zuckend durch den Raum läuft, scheint mal Protagonist, mal Requisite für die drei männlichen Figuren – Philoktet, Neoptolemos und Odysseus. Wer es gewohnt ist, dass in Filmen und auf der Bühne ein Fokus vorgegeben wird, der wird hier mit der Auswahl der Möglichkeiten schnell überfordert. Denn es passiert durchgehend viel auf der Bühne. Wäre die Inszenierung ein Film, hätten einige Bilder länger stehen müssen, um ihre volle Wirkung entfalten zu können.